So vieles ist anders in diesen Tagen und Wochen – und tritt nicht doch schon eine gewisse Krisengewöhnung ein? Der erste Schrecken ist vorüber, der Körper sendet nicht mehr dauernd „Alarm!“ und einige erleben diese Zeit sogar als heilsam: raus aus dem Hamsterrad, mal runterkommen, Dinge in Ruhe erledigen, nicht mehr unter Dauerstress. Doch für viele mag es jeden Tag wieder eine Gratwanderung sein: Wie gut komme ich heute klar mit dem Abstandhalten, mit der Tatsache, dass mein soziales Leben – mehr oder weniger von oben verordnet und auf relativ ungewisse Zeit – so eingeschränkt ist? Fällt mir die Decke auf den Kopf oder bin ich froh, mich mal nicht so zu zerfransen in lauter Kontakten hier und da und dort?

Eine Freundin sandte mir in diesen Tagen das Gedicht „Rezept“ von Mascha Kaléko (leicht im Netz zu finden), das so sehr passt in diese unsicheren Zeiten, wie mir scheint. Der Titel der heutigen Zeichnung, „Den eignen Schatten nimm zum Weggefährten“, stammt aus diesem Gedicht. Wir sind mehr als sonst auf uns zurückgeworfen und da ist es hilfreich, sich selbst ganz sympathisch zu finden. Das wünsche ich Ihnen!

Alternativer Bildtex

Den eignen Schatten nimm zum Weggefährten. 2020

die eremitin

sie schaut
sie hört
sie schweigt

sie zählt die verwaisten
tretboote am see und die
tauchgänge der haubentaucher
sie wiegt sich in den weiden

sie beobachtet den weg der vögel
setzt einen fuß vor den anderen
lässt ihren mantel im wind wehen
wie flügel

sie schreibt ein wort
sie zieht einen strich
sie vergisst die wochentage
und den wildwuchs ihrer haare

sie schweigt
sie hört
sie schaut
ganz friedlich aus