In Zeitlupe

Es gibt Tage, da hat sich die Energie ins Schneckenhaus verkrochen. Draußen ist es schon wieder grau und regnerisch und keine Tätigkeit scheint so richtig Sinn zu ergeben. Dann bewege ich mich wie in Zeitlupe durch meinen Alltag und befinde mich in Dauerbefragung: Ist das Langeweile? Oder habe ich einfach einen Durchhänger (nach viel Arbeit)? Kündigt sich eine depressive Verstimmung an oder sollte ich mich nur endlich mal zusammenreißen und mir die To-do-Liste vornehmen, die es ja immer gibt, da ist ja kein Ende in Sicht? Also was ist das Problem?

Vielleicht ist das eine Situation, die es „einfach“ auszuhalten gilt, ähnlich wie die Einsamkeit, die mich immer mal wieder ereilt. Ich habe eine Zeit lang damit zu tun und dann ist es auch wieder gut. Dann finde ich in meine Spur zurück, die Energie hat ihr Schneckenhaus verlassen – es ist ihr zu eng geworden und sie sehnt sich nach frischer Luft. Das Tal ist durchschritten. Und wir wissen es ja, dass schöne Tage vor uns liegen, das Grün sprießt schon, die Bäume schlagen aus, der Zilpzalp ist wieder zu hören. Das wird unsere Sinne beflügeln und Lust machen, das Gesicht in die Sonne zu halten. So möge es sein!

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Auf dem Weg ins Grün.

Ist das Langeweile?

Untätig sitze ich herum
die Zeit wie ein zäher schwerer Mantel
in den gegenüberliegenden Fenstern
spiegelt sich die Eintönigkeit des Vormittags

Kein Impuls regt sich in mir
die Leere ist unangenehm
denn es darf nicht sein
die Zeit zu verschwenden

Die Energie des Frühlings springt
gerade nicht auf mich über
berstende Knospenhäute machen mich
gerade nicht an
der farblose Himmel schenkt mir
nichts Interessantes

Ich öffne die Tür
lasse die kühle Luft herein und
die himmlische Farblosigkeit
atme die Zeitverschwendung

Bis meine nackten Füße so kalt sind
dass ich an nichts anderes mehr
denken kann
als an trockene Feldwege im Sommer
Kamille, Knäuelgras und Segge

Bilder aus Kindheitsendlostagen
gespeichert im inneren Archiv
Zeit war kein Begriff
heute tickt sie mir laut im Ohr

Moose und Flechten

Beim Gang über den Wochenmarkt heute am frühen Morgen riefen die Farben nach Aufmerksamkeit. Tulpen in Hülle und Fülle, Ranunkeln, Hyazinthen, Primeln künden vom nahenden Frühling und alles seufzt: „Endlich!“ Da richte ich meinen Blick auch gerne auf das Unscheinbare, das es nicht auf dem Markt zu kaufen gibt: Haben Sie sich schon einmal mit Moosen und Flechten beschäftigt, diesen zähen (Misch-)Pflanzen, die den Winter überdauern, als wenn nichts wär?

Moose gehören zu den ältesten Landpflanzen überhaupt, und die meisten Moosarten können vollständig austrocknen, ohne abzusterben. Keine Sorge, das wird jetzt keine Biologienachhilfestunde – was mich fasziniert ist, mit wie wenig sie auskommen und wie lange sie existieren können. Flechten werden mehrere hundert bis tausend Jahre alt. Und dann lese ich noch, dass es eine Flechtenart gibt, die sich „Totengebeinsflechte“ nennt, weil ihre kleinen Äste wie wettergebleichte Knochen von Vögeln oder Kleinsäugern aussehen. Da tut sich eine faszinierende Welt auf in dieser vermeintlichen Unscheinbarkeit, was mich wieder zu der ewigen Litanei bringt, sich auch den Blick für die kleinen Dinge zu bewahren. Ist das Weltflucht – sich angesichts dessen, was um uns herum an Bedrohlichem passiert, mit Flechten und Moosen zu beschäftigen? Es geht um den Sinn für die Vielfalt und darum, uns immer wieder bewusst zu machen, was wir zu verlieren haben und was wir im Begriff sind zu zerstören. Sich dann mal einzufühlen in Flechten und Moose könnte da vielleicht hilfreich sein. Probieren Sie es aus!

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Herzgeflecht.

Im Moose

die Glockentöne schmilzen in der Ferne
der Wiesenpfad liegt still im Licht
du tauchst in das sanfte Grün

das dich einlädt in sein
Moosbett die Milde zu atmen
dem Himmel zugewandt

die Glockentöne schmilzen in der Ferne
deine Haut schimmert grasgrün
du flichtst dir Flechten ins Haar

Inneres Schweigen

In letzter Zeit habe ich nicht viel (und das ist übertrieben) Poetisches geschrieben, eher habe ich gekritzelt und mit Farben, Stempeln und Zentanglemustern herumprobiert. Ist es stumm in meinem Innern? Vielleicht ist auch die Stimmung gerade so, dass es mich nicht drängt, etwas aufs Papier zu bringen. Kommt das wieder? Das Schreiben? Könnte es sein, dass die Kreativität versiegt einfach so, mir nichts mehr einfällt oder nichts mehr aus mir rauswill? Gleichzeitig habe ich das Gefühl, dass Schreiben und Kritzeln zwingend eine Ausdrucksform für mich sind. Dass ich mich irgendwann nicht mehr ausdrücken wollen könnte, ist schwer, mir vorzustellen.

In Ermangelung eines aktuellen poetischen Textes für den heutigen Beitrag wählte ich aus meinen inzwischen über 40 Schreib-und-Kritzel-Heften intuitiv eines aus und blätterte es durch. Ich kann in diesen Heften (eigentlich A5-Notizbücher) versinken, versuche mich an die Zeit zu erinnern: Womit habe ich mich beschäftigt, was war mir wichtig?
In der nach der Auswahl folgenden Textüberarbeitung habe ich das Damals ins Jetzt transportiert, das alte Grau mit dem aktuellen Grau in Verbindung gebracht, das sich mir an diesem Februarvormittag aufdrängte. – Die heutige kleine Poesie endet mit einer Aufforderung. Vielleicht sollte ich ihr doch einmal wieder folgen in diesen Tagen und schauen, ob es wirkt.

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Innenleben (Ausschnitt). 2023

Grübelgrau

Das Grau
und die Feuchtigkeit
schlagen dir
aufs Gemüt

Welche warme Welt
nähme dich auf
zu heilen
in Licht und Liebe?

Stattdessen
zermarterst dir das Hirn
grübelst was
werden soll

Ist dir kalt
so nimm einen Schal
Ist dir lieblos zumute
so schreib / dir selbst / ein Gedicht

Hoffentlich

Da hatten wir nun viel Regen in den letzten Wochen – und dann hört er auf einmal auf. Kein Pladdern mehr, keine Regenschirme, kleiner werdende Hochwassersorgen, aufkeimende Hoffnung. Die kommt gerade recht zum neuen Jahr, wo die Wünsche und Ziele frisch poliert auf Erfüllung hoffen dürfen, denn der Elan ist da, alles auf Anfang.

Mit der Hoffnung ist es so eine Sache. „Aussicht, Chance, Erwartung, Glaube“ sind die ersten vier Synonyme, die Duden mir online anzeigt. Die chinesische Autorin Chao-Hsiu Chen sagt: „Blüht eine Blume, zeigt sie uns die Schönheit. Blüht sie nicht, lehrt sie uns die Hoffnung.“ Und diese Blühhoffnung begleitet uns ja durch den langen Winter – irgendwann wird es wieder Frühling, dessen sind wir gewiss. Aber wenn es dann tagelang, wochenlang regnet, beschleicht mich doch wieder eine gewisse Verunsicherung, was noch alles auf uns zukommen mag an „Wetterereignissen“. Nicht zufällig komme ich da auf die Sintflut und malte mir neulich in meiner Vorstellung dieses Bild einer (vorläufigen) Rettung aus, wenn eine plötzliche Stille das Regengetöse ablöst. Aussicht, Chance, Erwartung, Glaube – wir haben keine Gewissheit, wir haben eine Aussicht, wir sehen eine Chance, wir erwarten und glauben, dass das Ersehnte nah und erreichbar ist. Es gibt auch Hoffnungen, die enttäuscht werden. Nicht immer haben wir es in der Hand, was (mit) uns geschieht, aber manchmal eben doch!

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Good Day Sunshine.

Nach der Sintflut

Stille auf einmal
der Himmel
klart von den Rändern her auf
ein vereinzelter Vogelruf

Doch am deutlichsten: Stille
nichts regt sich
die Pflanzen stehen stumm harren aus
ob nicht noch etwas kommt

Doch es wird heller
und heller
gar ein Sonnenstrahl erreicht die Blätter
vorsichtige Wärme

Erstaunen erfasst die Welt
(was nur Menschen so sagen können)
erste feine Regungen
der nahezu ertrunkene Erdboden

atmet auf hat
den Kopf endlich wieder über Wasser
ein Prusten ein befreites Blubbern ein
freudiges Blasenwerfen

Die Amsel nun aufgeregt
erste Kinderrufe hallen im Gelände

Es ist überstanden
unwirklich noch
der Himmel gibt sich schuldlos
weiße Wolkenschlieren vor leichtem Hellblau

Rechts oben im Bild die leuchtende Scheibe
ewig hat sie sich nicht blicken lassen

Nach der Sintflut
diesmal sind wir
noch
davongekommen

Übergangsmelancholie

Jedes Jahr das Gleiche, könnte ich denken. Jedes Jahr die gleichen Themen im Dezember: Weihnachten und die Zeit zwischen den Jahren und dann wieder Rückschau halten, was so war und was vielleicht herausragt aus den letzten zwölf Monaten, und dann Vorschau halten, was so werden soll und darf. Manche Menschen haben noch ewig Zeit für alles Mögliche, fangen gerade erst an zu leben, für andere wird die Luft dünner und da ist nicht mehr so viel an Tagen und Jahren, aber wer weiß das schon genau. Und wieder andere haben das Jahr 2023 nicht vollbringen können, sondern haben etwas anderes vollbracht, einen anderen Übergang, sind alleine losgezogen und haben uns hier zurückgelassen.

Und da stecken wir nun zwischen all dem, zwischen Vergangenheit und Zukunft, schauen mal nach vorn ins neue Jahr, mal zurück ins alte und dann wieder vor uns in die Tasse mit dem aromatisierten Wintertee und auf den Teller mit den puderzuckerbestäubten, marmeladeverfeinerten Plätzchen (nicht die aus dem Supermarkt), die es eben nur jetzt gibt und dann elf Monate wieder nicht mehr.

Ein Dilemma

Jedes Jahr das Gleiche, könnte ich denken. Oder ich schaue aufs Detail, auf die vielen kleinen Dinge und Ereignisse, die mein Leben bereichert – oder auch beschwert – haben. Womit bin ich beschenkt worden? Was habe ich bewältigt? Was wartet noch auf Erfüllung? Leben ist Reichtum, ließe sich das kurz zusammenfassen. Vergesse ich dabei, wie es global kocht und brodelt? Wie es in dieser unseren Gesellschaft kocht und brodelt und wie ich selbst schimpfe und streite? Leben ist Reichtum, und der Mensch ist unvollkommen, hassend und habgierig und egozentrisch. Und er sehnt sich nach Liebe und er liebt, er schenkt und hört zu, umarmt und tröstet und findet Trost im Mitmenschen. In diesem Dilemma stecken wir – wie viel Freude der Mensch dem Menschen bereiten kann und wie viel Elend. Er bringt Leben hervor, hegt und pflegt – und er tötet.

„Übergangsmelancholie“ habe ich diesen Beitrag betitelt und möchte auch nicht Zuckerguss streichen über all das, was uns zusehends bedrängt. Aus dem unbefriedigenden Dilemma ergibt sich für mich der Wunsch nach gemeinsamer Herzens- und Tatkraft für das zu Ende gehende und das neue Jahr und überhaupt: Let us make the world a better place!
Ich wünsche allen eine gute (Übergangs-)Zeit!

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Verfrorene Gemeinschaft.

Im Boot der Zeit

mich überlassen
dem, was ist
gähnen und
müde sein davon

schlafen im sanften Wogen
schaukeln auf den Wellen
träumen von Worten die
wie Schlüssel sind

vertrauen darauf
die Schlösser zu finden
Türen zu öffnen
innen wie außen

die Uhr tickt laut
der Zeiger klemmt
dem Übergang
mich überlassen

und hellwach sein