Einstürzende Altbauten oder Die dritte Haut

Als ich neulich an diesem verwundeten Haus vorbeifuhr, das vermutlich jetzt nicht mehr da ist, gab es mir einen Stich. Ich verspürte den Drang, es zu fotografieren, und schrieb dann einen kleinen Text dazu, den es unten zu lesen gibt. Oft sind Leute, vor allem Kinder auch, an solchen Baustellen zu sehen, wo etwas abgerissen wird, sie schauen zu, wie etwas, das von Menschenhand erschaffen wurde, durch von Menschenhand geführte Maschinen wieder zerstört wird. Große Bagger, Rammen und Abrissbirnen machen sich am Mauerwerk zu schaffen, bis nichts mehr übrig ist. Irgendeine Faszination geht davon aus, von diesem Unfassbaren, dieser Demolierung. Wie der Turm aus Bauklötzen, den wir erst sorgsam aufbauen, um ihn dann genüsslich umzuschmeißen. Actionfilme spielen mit dieser Lust am Kaputtmachen, endlich passiert mal was, viel Lärm, viel Getöse, ineinanderkrachende Autos, einstürzende Brücken, wow!

Dabei ist ein Haus ein Schutzraum, die dritte Haut, so hat es auch Friedensreich Hundertwasser genannt und hat eines seiner Bilder so betitelt. Der Mensch sei von drei Schichten umgeben, seiner Haut, der Kleidung und den Mauern, dem Gebäude. Daher ist es vielleicht nicht verwunderlich, dass mich der Anblick dieses Hauses mit den zwei unfreiwilligen Löchern so „ergriff“. Und wenn wir an leer stehenden Häusern, verlassenen Fabrikgebäuden mit eingeschlagenen Fenstern vorbeigehen, vor denen Löwenzahn, Brennnessel und Stechapfel wachsen – mutet es nicht seltsam wehmütig an, irgendwie traurig? Woher die Faszination für „Lost Places“? Hier hat mal jemand gewohnt, gearbeitet, das hier war ein lebendiger Ort. Und nun sind da Staub, Scherben, Müll und eine unwirkliche Stille. Das Haus atmet …, aber ohne uns. Fast sind wir dann froh, wenn es abgerissen wird und etwas anderes dort entsteht – da ist wieder Aussicht auf Zukunft.

Im Schreiben aber mochte ich neulich noch etwas verweilen in der Gegenwart und der Vergangenheit dieses im wahrsten Sinne angeschlagenen Hauses. Neues zu beginnen beinhaltet auch, sich zu verabschieden – jedenfalls sollten wir uns Zeit dafür nehmen, um dann mit ganzer Kraft das Neue zu gestalten.

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Aua.

Abbruchreif

Man hat ein Loch in mich geschlagen
und das ist erst der Anfang.
Es schmerzt, wie der Wind nun
ungehindert durch mich hindurchfährt.

Ich habe nicht mehr lang.
Morgen kommen sie wieder und das
wird dann mein Ende sein,
unwiederbringlich.

Menschen haben mich bewohnt,
meine Wände speichern ihre Gemütlichkeit
und ihren Zorn, ihren Nachtschweiß und
ihre Morgenlust.

Menschen haben entschieden, dass es
jetzt genug ist mit mir,
dass etwas Neues kommen soll,
etwas Schickeres.

Zum Abschied war da noch eine,
die mich fotografierte
an einem Sonntagmittag,
als hätte sie Mitleid.

Mein Vermächtnis sind also eine
bestimmte Anzahl von Pixeln.
Man hat ein Loch in mich geschlagen,
das Ende nimmt seinen Anfang.

Imagination – eine geniale Erfindung!

Haben Sie einen Wunsch, eine Sehnsucht, von der Sie wissen, dass sie sich (sehr vermutlich) nie erfüllen wird, was Sie jedoch als gar nicht so schlimm empfinden? Vielleicht eine Reise zum Kilimandscharo, die Sie sich finanziell gar nicht leisten können? Oder einen Fallschirmsprung, den Sie sich aber niemals trauen würden – nur mal so, ohne was, in der hohen Luft sein, die Arme ausbreiten und sich sagen: Ich bin hier und die Welt ist dort?

Ich habe auch so eine Sehnsucht, von der ich in meinem heutigen Text berichte. Eigentlich banal, möchte man meinen, sich nach einem Garten zu sehnen. Doch sehr wahrscheinlich geht die Sehnsucht über den reinen Ort hinaus. Dieser Ort ist mehr ein Synonym für etwas anderes, für Friedlichkeit zum Beispiel, für Geborgenheit, für Ent-Spannung – so wie der Kilimandscharo ein Bild sein mag für die Sehnsucht, endlich angekommen zu sein nach großen Strapazen, oder der Fallschirmsprung eine Metapher für das freie Sein im Element Luft, um danach neu anzufangen.

Unsere Vorstellungskraft ist etwas sehr Besonderes. Wir können sie einsetzen, um uns das Schlimmste vom Schlimmen vorzustellen – was in diesen Zeiten nicht sehr schwer ist –, aber sie ist auch eine faszinierende Möglichkeit, uns etwas Wunderbares in allen Einzelheiten auszumalen. Und wenn wir tief eintauchen in diese imaginierten Bilder, ist es so, als wären sie real und wir mittendrin.

Für mich ist das Schreiben eine gute Art des Eintauchens. Es gelingt nicht immer, aber wenn es gelingt, ist es eine besondere Erfahrung des Zusammenspiels von Schrift/Schreiben und Imagination – und macht richtig zufrieden!

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Ans Licht.

Ich habe keinen Garten

Ein ruhiger Samstagmorgen. Regenschauer und Schwüle sind einer angenehmen Frische gewichen, der Himmel ist wieder blau. Ein Wind weht.
Wenn ich einen Garten hätte, träte ich nun mit einer Tasse Tee hinein und suchte mir einen Schreibplatz aus, der meiner Stimmung und dem Sonnenstand entspräche. Ich legte mein Notizbuch auf dem Tisch ab und wandelte mit der Teetasse in der Hand erst einmal die Wege entlang, betrachtete, was blühte, was Knospen trüge, zupfte hier und da Vertrocknetes ab und spürte die Ruhe, die von dem Wachsen und Gedeihen und Da-Sein ausginge. Die getigerte Nachbarskatze begleitete mich eine Zeit lang in ihrem gemächlichen stillen Schreiten, ich streichelte sie und lauschte ihrem Schnurren, das die Ruhe mit einer sanften Melodie unterlegte. Ich zöge das weiche (je nach Jahreszeit Baum-)Wolltuch etwas enger um mich und spürte seine Wärme im frischen Wind, das Atmen fiele mir leicht und ich hielte mein Gesicht in die helle frühe Sonne, schlösse die Augen und ließe mich entführen für einen Moment in die weite Lichtlandschaft hinter meinen Lidern.
Sodann setzte ich mich an meinen geliebten Schreibplatz, öffnete die Kladde, griffe nach meinem Stift und schriebe ein erstes Wort, das mir gerade in den Sinn gekommen wäre, und ein zweites und es flösse in einfacher Weise aus mir heraus, als hätten die Worte nur darauf gewartet, sich endlich zu offenbaren, sich zu zeigen, ins Leben zu kommen. Ich wäre also eine Art Wortgeburtshelferin, und es gefiele mir.

All das täte ich und geschähe mir, wenn ich einen Garten hätte, in den ich gegangen wäre an einem ruhigen Samstagmorgen bei angenehmer Frische, Wind und Sonne.

Ich habe keinen Garten und war doch schreibend dort. Jederzeit kann ich ihn betreten und Ruhe finden zwischen Calendula und Echinacea, Lavendel und Tagetes. Ich muss ihn nicht mal gießen …

Die Dinge des Alltags

Ein mausgrauer Morgen Ende Mai. Gegenüber wird das Dach neu gedeckt, aber jetzt ist gerade mal Pause, denn die Arbeiter haben Schutz gesucht vor dem Regen. Und die grüne Folie ist ja schon drauf, also keine Angst, dass es reinregnet in den Dachboden, den ich mir dreckig vorstelle, Taubenkot überall. Damit ist jetzt Schluss, es wird keine Dachluken mehr geben und die Tauben müssen draußen bleiben, sich nass regnen lassen, sich andere Unterschlupfe suchen, falls sie welche brauchen. Da höre ich schon wieder den Gabelstapler dröhnen und die Männer rufen. Es ist immer besser, wach zu sein, bevor der Lärm losgeht, das gibt ein Gefühl von Kontrolle. Ich bin auch jedes Mal froh, wenn ich wach bin, bevor der Nachbarshund anfängt zu kläffen ganz unvermittelt. Mitten in der Stadt glaubt er, ein eingezäuntes Miniaturrevier verteidigen zu müssen.

Ich möchte mich kurzfassen heute und habe nur ein kleines Haiku ausgesucht, das von etwas handelt, was in der Stadt nur noch selten draußen zu sehen ist – die Wäscheleine. Viel zu klein sind die „Miniaturreviere“, die Gärten geworden, wenn es sie überhaupt noch gibt. Dabei ist frisch gewaschene und sonnengetrocknete Wäsche doch etwas Herrliches! Die kleinen Dinge des Alltags – manchmal tut es gut, sich auf sie zu konzentrieren und sie vielleicht mit einem Haiku zu würdigen. Es gibt so vieles um uns herum, was wir kaum noch wahrnehmen, weil es eben „immer“ da ist. Vielleicht haben Sie Lust, heute einmal einen Ihrer Gegenstände in die Hand zu nehmen und sich zu überlegen, was er Ihnen wirklich bedeutet. Und wenn Sie dazu etwas schreiben möchten, könnten Sie beginnen mit: „Du bist wertvoll für mich, weil …“. Möglicherweise fällt Ihnen nach dem Gegenstand dann auch noch ein Mensch ein, der Ihnen wertvoll ist, weil …

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Keep it simple.

Wäscheleine blau
Klammern schaukeln arbeitslos
Strich in der Landschaft

Transgenerational

Beruflich redigiere ich gerade ein Manuskript zum Thema „Kriegsenkel“ und finde mich in dieser Thematik sehr wieder – und das nicht zum ersten Mal. Es ist schon zehn Jahre her, dass ich das Buch „Seelische Trümmer. Geboren in den 50er- und 60er-Jahren: Die Nachkriegsgeneration im Schatten des Kriegstraumas“ der Psychologin Bettina Alberti las und mich beim Lesen eine Erkenntnis nach der anderen „traf“. Die Generation der Kriegsenkel*innen hat da etwas transgenerational vererbt bekommen, was sie wohl lieber nicht geerbt hätte und woran sie sich zum Teil sehr mühevoll und schmerzhaft abarbeitet, wenn es ihr denn endlich bewusst geworden ist, woher die eigenen psychischen und körperlichen „Verwerfungen“ so rühren könnten.

Dieses Thema führte mich vor einigen Jahren auch in ein Schreibseminar, woran ich mich nun wieder erinnerte. Die elf Zeilen unten waren meine Quintessenz dieses Workshoptages und ich weiß noch gut, dass das Schreiben kein leichtes Unterfangen war und gleichzeitig doch sehr wohltuend, in einer kleinen Gruppe schreibend sich mit den eigenen – und teilweise eben auch kollektiven – Kriegs- und Nachkriegsnachwehen auseinanderzusetzen und Worte für sie zu finden.

Ich habe des Öfteren erfahren dürfen, welch beruhigende und auch heilende Wirkung das Schreiben haben kann. So manches Mal schrieb ich mich schon durch etwas Quälendes hindurch und gelangte am Ende zu einer Stimme in mir, die wieder Licht am Ende des Tunnels sah, sodass ich erst einmal „weitermachen“ konnte, mich wieder mehr besinnen konnte auf das Nährende und Heilsame in meinem Leben und in der Welt. Aber immer neue Kriege bringen immer neue Traumata und so nimmt es kein Ende mit den Krieger*innen, den Kriegskindern und Kriegsenkel*innen. Da drängt es mich, diesen Beitrag mit einem Appell zu schließen: Make art – not war! Make poems – not war!

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There is a crack in everything …

Erbschaft

Kämme die uralten Haare,
kämme die Flöhe heraus
und das Stroh, den Vogelkot
und den Staub von tausend
Jahren

So brüchig sind die Zacken deines Kammes,
so brüchig ist dein Erbe –
was du noch gebrauchen kannst
nimm mit
alles andere lass liegen

In Zeitlupe

Es gibt Tage, da hat sich die Energie ins Schneckenhaus verkrochen. Draußen ist es schon wieder grau und regnerisch und keine Tätigkeit scheint so richtig Sinn zu ergeben. Dann bewege ich mich wie in Zeitlupe durch meinen Alltag und befinde mich in Dauerbefragung: Ist das Langeweile? Oder habe ich einfach einen Durchhänger (nach viel Arbeit)? Kündigt sich eine depressive Verstimmung an oder sollte ich mich nur endlich mal zusammenreißen und mir die To-do-Liste vornehmen, die es ja immer gibt, da ist ja kein Ende in Sicht? Also was ist das Problem?

Vielleicht ist das eine Situation, die es „einfach“ auszuhalten gilt, ähnlich wie die Einsamkeit, die mich immer mal wieder ereilt. Ich habe eine Zeit lang damit zu tun und dann ist es auch wieder gut. Dann finde ich in meine Spur zurück, die Energie hat ihr Schneckenhaus verlassen – es ist ihr zu eng geworden und sie sehnt sich nach frischer Luft. Das Tal ist durchschritten. Und wir wissen es ja, dass schöne Tage vor uns liegen, das Grün sprießt schon, die Bäume schlagen aus, der Zilpzalp ist wieder zu hören. Das wird unsere Sinne beflügeln und Lust machen, das Gesicht in die Sonne zu halten. So möge es sein!

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Auf dem Weg ins Grün.

Ist das Langeweile?

Untätig sitze ich herum
die Zeit wie ein zäher schwerer Mantel
in den gegenüberliegenden Fenstern
spiegelt sich die Eintönigkeit des Vormittags

Kein Impuls regt sich in mir
die Leere ist unangenehm
denn es darf nicht sein
die Zeit zu verschwenden

Die Energie des Frühlings springt
gerade nicht auf mich über
berstende Knospenhäute machen mich
gerade nicht an
der farblose Himmel schenkt mir
nichts Interessantes

Ich öffne die Tür
lasse die kühle Luft herein und
die himmlische Farblosigkeit
atme die Zeitverschwendung

Bis meine nackten Füße so kalt sind
dass ich an nichts anderes mehr
denken kann
als an trockene Feldwege im Sommer
Kamille, Knäuelgras und Segge

Bilder aus Kindheitsendlostagen
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Zeit war kein Begriff
heute tickt sie mir laut im Ohr