Mal die Perspektive wechseln

Wenn morgens die Vögel schon zwitschern, bevor es hell wird, dann streckt der Frühling seine Fühler aus, mögen die niedrigen Temperaturen auch das Gegenteil vermuten lassen. Ich höre gern zu, was da so gezwitschert wird, und stelle mir vor, ich wäre mittendrin in diesem Völkchen von Meisen, Rotkehlchen und Amseln, das sich zu früher Stunde gegen das ewige urbane Dauerrauschen der Autos durchzusetzen versucht.

Zu fliegen wie die Vögel ist ein alter Menschheitstraum. Hin und wieder die Vogelperspektive einzunehmen, kann lehrreich und auch heilsam sein. Die Dinge mal mit Abstand zu betrachten und das größere Ganze in den Blick zu nehmen; manches relativiert sich dabei.
Und dann merke ich, dass ich gern noch viel länger „da oben“ verweilen würde, segelnd, mich treiben lassend, leicht … Wie wäre es heute also mit einem kleinen Aus-Flug?

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Metamorphose.

Nach der Nacht

Am frühen Morgen
wenn die Mondsichel noch steht
ziehe ich mit den ersten Vögeln
frei bin ich dann
in der klaren Luft der oberen Troposphäre

Je näher ich der Erde komme
desto zweifelnder werde ich

Die kurze Form

Während ich dies schreibe, bin ich noch sehr positiv beeindruckt von einem Seminar zu autobiografischem Schreiben, an dem ich kürzlich teilgenommen habe, geleitet von der Schriftstellerin Annette Pehnt. Wir versuchten uns in verschiedenen Zugängen zu diesem weiten Feld des Autobiografischen (oder auch Autofiktionalen) – und als Liebhaberin der kurzen / poetischen / Form gefiel mir besonders der „Lebenslauf in 10 Wörtern“. Uns als „kleine Fingerübung“ angekündigt, haben diese zehn Wörter es aber doch in sich. Ein ganzes Leben mal eben komprimieren, das Wichtigste herausfiltern und zu Papier bringen. Das Wichtigste? Was ist es denn, was mein Leben ausmacht? Ist es das Früher oder ist es das Jetzt oder eine Mischung aus beidem? Worauf richte ich meinen Blick?

Im Seminar schrieb ich drei verschiedene Varianten und in der Vorbereitung für diesen Blogbeitrag „spielte“ ich mit einzelnen Zeilen, tüftelte, suchte nach noch passenderen Ausdrücken, setzte zusammen, verwarf, änderte die Reihenfolge und entschied mich schließlich für die 10 Wörter, die unten zu lesen sind (die Überschrift ausgenommen). Morgen würde ich vielleicht andere Wörter wählen und übermorgen sowieso.
Ich möchte Sie und euch anregen, es auch mal mit den 10 Wörtern zu probieren. Da gibt es so viele Möglichkeiten: zum Beispiel nur (Lebens-)Orte zu benennen, nur Namen von Menschen, die einem wichtig waren oder sind, Musiktitel – oder den kleinen Lebenslauf rein aus Verben oder Adjektiven bestehen zu lassen … Eine spannende Entdeckungsreise!

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oh wie lebensfroh!

Mein Leben in 10 Wörtern

Schale aufgebrochen
ungeborgenes Lebensknirschen
mühsames Altlastenentledigen
Innenweltenbummlerin
neue Wege findend

Ungewissheiten

Inzwischen sind wir angekommen im neuen Jahr, doch wissen wir nicht, was es bringen wird. Auf die letzten zwei, drei Jahre zurückblickend, sind wir vielleicht froh, dass wir nicht wussten, was uns erwarten würde. Sind wir demütiger, bescheidener geworden in dieser Zeit, die uns so viel abverlangt hat und so viel ins Wanken brachte?

Wir planen, schließen Verträge, sichern uns ab in der Hoffnung, das Leben im Griff zu haben. Und doch geschehen immer wieder Dinge zwischen Himmel und Erde, die wir so nicht vermutet hätten – manchmal sind es glückliche Fügungen, die dem Leben womöglich eine neue Richtung geben, manchmal böse Blitzeinschläge, die die vermeintlichen Gewissheiten zu Staub zerfallen lassen. Flexibel zu sein, anzunehmen, was kommt, das ist immer wieder eine Herausforderung für uns Menschen. Möge das neue Jahr uns wohlgesinnt sein!

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Hier und dort.

Noch zart

Ein neues Jahr beginnen
einen neuen Tag
eine Stunde
eine Minute
eine Sekunde beginnen

ein neues Leben beginnen
aufrichtig zu leben beginnen
beginnen neu zu hoffen,
zu wünschen,
beginnen zu glauben
dass neben allem Sehnen,
Hoffen, Flehen
unter und über der Oberfläche
in der Tiefe und in der Höhe
noch etwas anderes ist
eine Folie
ein Dunst
ein Flaum
deinem Eingriff entzogen
deinem angestrengten Wollen

In dieser Sekunde beginnt etwas,
von dem du nichts weißt.

Und wenn der Dunst sich lichtet,
wenn aus der Folie Gestalt geworden ist,
wenn der Flaum die Feder freigibt –

dann
wirst du es wissen.
Und dann
ist es
früh
genug.

Ihre Verbindung …

Neulich passierte es mir mal wieder, dass ich in einer telefonischen Warteschleife verweilen musste und eine technische Stimme mir wiederholt versicherte: „Ihre Verbindung wird gehalten. Ihre Verbindung wird gehalten.“ Das ist doch irgendwie tröstlich, dachte ich, da hält jemand oder etwas die Verbindung und ich muss gar nichts weiter tun. Für Menschen (wie mich), die öfter zweifeln, ob sie überhaupt verbunden sind mit jemandem oder etwas, könnte so eine Ansage vielleicht Entlastung bedeuten: „Ihre Verbindung wird gehalten. Sorgen Sie sich nicht, es ist für Sie gesorgt.“

In diesen kommenden (Jahresend-)Tagen, in denen manche womöglich das Gefühl bekommen werden, mehr Verbindung zu haben, als ihnen lieb ist, werden sich andere umso unverbundener fühlen. Für sie mag es eine echte Aufgabe und Herausforderung sein, in Gedanken oder Taten sich zu verbinden.

Wenn wir einen Blick haben oder entwickeln für das, was um uns herum ist, können wir diese Verbindung leichter herstellen – so ist meine Erfahrung: mit dem Baum an der Straßenecke, der Katze, die gegenüber auf der Fensterbank sitzt, der alten Frau, die gerade ein leeres Marmeladenglas in den Container wirft. Und wir können uns genauso mit uns selbst verbinden, unserem Atem, unserem Herzschlag, unserem Lidschlag. Mir hilft in vielen Situationen das Schreiben, um mich zu verbinden – mit mir selbst und mit anderen. So handelt auch mein heutiger Text „Vom Weben“, den ich 2017 schrieb, von Verbindung. Er fällt diesmal etwas länger aus, verdichtet nicht, sondern breitet eher aus. Aber der Winter ist ja auch gemacht fürs Geschichtenerzählen …

Ich wünsche allen alles Gute für die kommende Zeit – in herzlicher Verbundenheit!

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Hold the line.

Vom Weben

Als meine Mutter noch lebte, saß ich gern mit ihr auf ihrer Terrasse und schrieb mit meinem Füller Wörter, die sie sagte, in mein Heft, notierte zusammenhanglos aus ihren Erzählungen einzelne Begriffe und übte mich so in der schönen Schrift. Es waren besondere Momente der Verbindung zwischen uns und zwischen mir und dem Papier und dem Stift.
Nun ist meine Mutter schon länger tot und ich lausche keinen Erzählungen mehr auf einer Terrasse und notiere dabei auch nicht mehr zusammenhanglos Begriffe und dennoch versuche ich hier gerade schreibend einen Teppich zu weben aus Wörtern, und mir beim Schreiben zuzuschauen erfreut mich auch. Ich höre das Kratzen der Feder auf dem Papier, sehe das Schwarz sich ausbreiten, als strickte ich einen breiten Schal oder webte einen Stoff, endlos.
Also schreib, schreib, dass der Faden nicht reißt, und vielleicht verbindet dich das mit deiner Mutter, die erzählen konnte, Geschichten und Erlebnisse, von Menschen erzählte, die du nur aus ihren Erzählungen kanntest. Du konntest dich geborgen fühlen in diesem Wortteppich, in Ahnengeschichten, in ihrem Familien- und Verwandtschaftsgewebe. So wurde der Stuhl, auf dem sie saß, zu einem Webstuhl, auf dem sie Geschichten webte und sich selbst in dieses Geschichtengewand hüllte, um nicht allein zu sein, sondern verbunden mit den Lebenden und den Toten, der Vergangenheit und der Gegenwart, aber später doch mehr mit den Toten und der Vergangenheit.
In ihrem eigenen Tod mag sie vielleicht auf neue Art mit ihren Toten verbunden sein, ihrer Vergangenheit wieder näher gekommen, denn im Totsein verwässern sich die Zeiten zu einem großen Fluss, in dem sie schwimmt mit den anderen oder am Ufer sitzt und weiter Geschichten erzählt, alle erzählen sie Geschichten, die sich aus dem Fluss speisen und die den Fluss speisen, auf dass er fließen und fließen möge und nicht versiegen, sondern für alle Zeiten da sein und für alle Seelen, die noch folgen werden, auch für mich wird ein Platz sein im Fluss und am Ufer, ich werde mich dort erfrischen.

Nachrichten aus der Werkstatt

Seit einigen Wochen führe ich ein „Kreiseltagebuch“. Um nach einer recht uninspirierten Phase für mich die Schwelle zum Kreativwerden möglichst niedrig zu setzen, kam mir der Gedanke, eine Art Tagebuch zu führen, das nur aus Kreisen und Kringeln besteht. Eine Seite Kreise – das würde ich doch wohl jeden Tag schaffen, dachte ich mir. Und viel mehr wollte ich darüber auch nicht denken, sondern tun. Und so befinde ich mich gerade auf einer interessanten Reise durch die Welt der Kreise, Kringel und Spiralen und entdecke, wie vielfältig diese geometrische Kreisfigur ist und was sich damit alles anstellen lässt.

Das heutige Bild zeigt die Rückseite eines ins Papier genähten Kreises. Beim Betrachten des fertigen „Objekts“ erschien mir die Rückseite des Blattes interessanter als die („ordentliche“) Vorderseite. Hinter die Kulissen zu schauen, kann ja durchaus verlockender sein, als das perfekte Bühnenbild zu betrachten. Es gibt viel mehr zu entdecken. An einer Stelle ist mir das Papier eingerissen – auf der Vorderseite ist das nicht zu erkennen. Wie viele Risse weisen wir auf hinter unserem Lächeln, hinter den Rollen, die wir spielen tagtäglich? Wie sieht es aus hinter unseren Kulissen – aufgeräumt oder chaotisch? Führen wir unser Leben geordnet oder stolpern wir durch die Zeit, wie es gerade so kommt? Ein Kreis, heißt es gemeinhin, hat keinen Anfang und kein Ende. Von der Rückseite betrachtet, stimmt das nicht unbedingt, und es wird sogar sichtbar, dass mir unterwegs der Faden ausgegangen ist, der rote Faden – der zu den heutigen poetischen Zeilen überleitet, ein kleiner Auszug aus einem Text, den ich im August 2016 schrieb und der für mich immer noch Gültigkeit hat. Offenbar interessiere ich mich für das „Dahinter“ nicht erst seit gestern …

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scheinbar_anscheinend.

Ach, könnte ich

Ach, könnte ich mich vollsaugen
mit Himmel, wolkenlos, zum Horizont
hin heller werdend
Und dann, so ganz voller Himmel,
würde mir leicht ums Herz,
die Schmerzen lösten sich auf,
ungeahnte Klarheit bemächtigte sich
meiner, ich sähe die Dinge hinter den
Dingen und verstünde endlich
die Zusammenhänge, die ich
bisher nur notdürftig aneinanderhefte
mithilfe eines
roten
Fadens …